Englische Scharrbilder

"Wilde Männer", Pferde, und andere Zeichen

Wo sich die britische Autostraße A 338, die »Tidworth Road«, der Ortschaft Hungerfogrd nähert, soll eine ungewöhnliche Erscheinung hin und wieder erschreckte Autofahrer am helllichten Tage dazu veranlassen, hart auf die Bremse zu treten. Wenn man örtlichen Erzählungen Glauben schenken darf, galoppiert gelegentlich eine Lady auf einem weißen Pferd quer über die Straße, ohne sich um das Verkehrsaufkommen zu kümmern. Kurbelt der betroffene Automobilist sein Fenster herab, um die Dame ob ihres leichtsinnigen Verhaltens zu schelten, dann lösen sie und der Schimmel sich in Nichts auf. Es handelte sich um eine Spukgestalt. Schließlich ist man auf den Britischen Inseln, wo dergleichen bekanntlich zum Alltag gehört. Die gespenstische Dame reitet auch nicht das einzige weiße Geisterpferd der Eilande zwischen Nordsee und Atlantik. In der Grafschaft Berkshire, in Finchampstead, und an anderen romantischen Orten des spukverseuchten Inselstaates erscheinen gutgläubigen Geistersehern und erschrockenen Normalbürgern angeblich des Öfteren in dunklen Nächten weiße Phantompferde. Ruhelos traben sie durch die Finsternis und verschwinden ebenso mysteriös, wie sie aufgetaucht sind. Sogar ein alter britischer Kinderreim hat einen solchen Gespensterschimmel nebst seiner Reiterin verewigt:
»Ride a cock horse to Banbury Cross, See a fine lady upon a white horse. Rings on her fingers and bells on her toes, She shall have music wherever she goes.«
(Reite rittlings zum Banbury Kreuze hier, Eine Lady auf weißem Rosse begegnet dir. Mit Ringen am Finger und Glöckchen am Zeh, Musik soll sie haben, wohin sie auch geh'.)
Wer diese Verse hört, ist versucht, an die alte Legende von Lady Godiva aus Coventry zu denken, die, mit nichts als ihrem hüftlangen Haar bekleidet, einst auf einem Schimmel durch die Stadt geritten sein soll. Die Geschichte von Banbury Cross hat sich aus heidnischen Zeiten herübergerettet, und die liegen Jahrtausende zurück. Inzwischen dürften die Geistertiere ebenso müde geworden sein wie die alten Volksbräuche, die sich in England bis ins vergangene Jahrhundert hinein um die verehrten weißen Vierbeiner rankten. Wer nichts vom Spuk hält und dennoch eines jener mysteriösen Rosse sehen möchte, der folge der Bahnstrecke von London nach Bristol. Was er sucht, findet er 17 Kilometer vor dem Städtchen Swindon bei Uffington im Tal des weißen Pferdes an der oberen Kante eines ausgedehnten tafelförmigen Hügels: einen Schimmel von gewaltigen Dimensionen. Weiß leuchtend hebt sich das Tier vom Grün des englischen Rasens ab. Es mißt vom Kopf bis zur Schwanzspitze genau 112 Meter.
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Seine Gestalt ist regelrecht aus dem Boden herausgeschnitten. Die dünne Grasdecke ist entfernt, und das kreidige Gestein des Untergrundes gibt die Konturen des ungewöhnlichen Tieres wieder. Niemand weiß genau, wie alt das Pferd von Uffington ist. Auf jeden Fall wäre es längst von der Vegetation wieder überwuchert, wenn nicht ein alter Brauch es über viele Jahrhunderte vor diesem Schicksal bewahrt hätte. Jedes siebente Jahr zur Zeit der Sommersonnenwende »restaurierte« es die Landbevölkerung. Sie feierte ein Mittsommerfest auf dem Hügel oberhalb des Pferdes und entfernte bei diesem Anlaß sorgsam das nachgewachsene Gras und Unkraut von der weißen Figur. Mit dem ländlichen Fest war zugleich ein alter Brauch verbunden, der zwar ungewöhnlich erscheint, aber in England auch an anderen Orten gepflegt wird: Über die Böschung unterhalb des Pferdes rollten die Bauern große runde Käse hinab. Vielleicht ist diese Tradition ein Überbleibsel eines Fruchtbarkeits-zeremoniells, vielleicht eine späte Abwandlung der heidnischen Feuerräder, die Sonnenverehrer in vorchristlicher Zeit in der Mittsommernacht in vielen Teilen Europas als hell lodernde Symbole für den Lebensspendenden Himmelskörper zu Tal schickten. Noch heute haben sich ja aus dieser Zeit in manchen Ländern des Kontinents die Sonnenwendfeuer erhalten, die in der kürzesten Nacht des Jahres (in der Schweiz allerdings erst zum Nationalfeiertag am 1. August) von Bergeshöhen grüßen. Seit 1857 gibt es das sommerliche Fest zu Ehren des Weißen Pferdes von Uffington nicht mehr. Das wuchernde Gras drohte der legendären Figur für alle Zeiten den Garaus zu machen, als sich das staatliche britische Department of the Environment ihrer annahm. Heute ist sie immer einwandfrei gepflegt. Ohne Zweifel ist das riesenhafte weiße Pferd sehr alt. Doch wie alt es wirklich ist, vermag niemand mit Sicherheit zu sagen. Angesehene Felsbildexperten glauben, daß es aus der Zeit zwischen 500 v. Chr. und Christi Geburt stammen könnte, denn stilistisch ähnelt es sehr den jüngeren eisenzeitlichen Figuren aus der so genannten Laténe­Kultur, die von den Kelten ausging und damals in Europa weit verbreitet war. Auf den recht abgelegenen Britischen Inseln konnte sie sich allerdings noch bis in die ersten nachchristlichen Jahrhunderte hinein halten. Deshalb könnte das weiße Pferd eventuell auch aus dieser Zeit stammen. Noch ein weiterer Grund spricht für Ursprünge in der Eisenzeit: Ganz ähnliche Pferdefiguren fanden sich nämlich auf alten Münzen aus dieser Ära. Nun wissen Numismatiker, daß Münz- und Banknotenmotive ihrerseits nicht unbedingt aus der Zeit der Münzprägung oder des Notendrucks stammen müssen, sondern oftmals weit älter sind als die Zahlungsmittel, die sie symbolhaft zieren. Deshalb glauben manche Experten, daß die Wurzeln der mysteriösen Pferdedarstellungen noch viel weiter zurückreichen. Interessant ist, daß altgermanische Felsbilder in Vittlycke bei Tanum im Südwesten Schwedens sehr ähnliche, wenn auch weitaus kleinere Pferdedarstellungen zeigen. Das Pferd galt bei den Germanen als heiliges Tier. Auch heute scheuen die meisten Nachfahren der Germanen davor zurück, das Fleisch des einst kultisch verehrten Pferdes, des Symboltieres des Gottes Wotan, zu essen. Noch heute findet sich das alte germanische Pferd im Wappen der Stadt Hannover. Auch so manches andere Städtewappen zeigt noch das alte Weltenrad des Germanengottes Thor. So schlecht bestellt ist es um das Gedächtnis der Völker also keineswegs, daß sie sich nicht über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg an Dinge erinnern könnten, die ihnen einst heilig gewesen sind. So geht zum Beispiel unser Donnerstag, der englische Thursday, auf Donar oder Thor zurück. Und der Dienstag beziehungsweise Tuesday erinnert an Tiu, Ziu oder Tyr, alles Namen für Wotan. 1963 suchte der britische Prähistoriker S. G. Wildman eine riesige Pferdedarstellung in der Nähe von Banbury, dem Ort, auf den der Kinderreim anspielt. Alte Aufzeichnungen sprachen nämlich von einem so genannten Roten Pferd von Tysoe, das 1461 renoviert, danach aber von der Vegetation überwuchert wurde. Weil hier unter dem Gras kein Kreideboden zu finden ist, zeigte die alte Darstellung keinen Schimmel, sondern einen Fuchs. Wildman fand gleich eine ganze Figurengruppe: eine menschliche Riesengestalt von über 50 Meter Höhe mit geschwungener Peitsche, einen Wasservogel - vermutlich eine Gans - mit erhobenem Kopf und dahinter eines jener mystischen Pferde, deren Gestalt von manchen Vorzeitforschern auch als Drache gedeutet wird. Unter all diesen Figuren befand sich ein weiteres gigantisches Tierbild von 100 Meter Länge. Der überlieferte Name Tysoe läßt aufhorchen. Wildman interpretierte ihn als »Tiws Hügel«. Tiw wiederum war eine alte angelsächsische Gottheit, der schon erwähnte teutonische Tiu oder germanische Tyr. Das englische Wort Tuesday spricht sich schließlich kaum anders aus als »Tiu's day«. Nun geht von dem angelsächsischen Tiw die Sage, er habe eine üble Bestie gefesselt, also die Kräfte der Dunkelheit besiegt, wie der Frühling den Winter. Genau hier springt wieder das Volksgedächtnis ein: In unmittelbarer Nähe der Tysoe-Figuren liegen der Spring Hill (Frühlings­hügel) und der Sunrise Hill (Sonnenaufgangshügel). Diese verblüffende Feststellung könnte dazu beitragen, mehrere archäologische Geheimnisse mit einem Streich aufzuklären. Dazu ist aber erst eine Inventaraufnahme der britischen Hill Figures, der rätselhaften »Hügelfiguren«, erforderlich. Denn in dem riesigen Weißen Pferd von Uffington und der Figurengruppe von Tysoe erschöpfen sie sich keineswegs. Wo die Hochebene von Salisbury zum Tal von Pewey abfällt, liegt Westbury in der Grafschaft Wiltshire. Unweit davon, am Berghang von Bratton Down, gibt es das Weiße Pferd von Westbury.
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In seiner heutigen Form stammt es nachweislich aus dem Jahre 1778, aber zuvor war an derselben Stelle ein anderes, älteres weißes Pferd, das nicht die klassische Pferdefigur zeigte, wie man sie jetzt dort sieht. Das alte Pferd glich in seiner Form ganz dem merkwürdigen Tier von Uffington und stammte sehr wahrscheinlich aus derselben Zeit wie dieses. Auf sein hohes Alter weist außerdem eine eigentümliche Wallanlage hin, die auf dem flachen Hügel oberhalb des Pferdes liegt. Sie stammt aus der Eisenzeit. Viele Archäologen deuten sie als alte Festungsanlage. Doch wie sie sich verteidigen ließ, darüber schweigen die Gelehrten geflissentlich. Die »Eisenzeitfestung« scheint eine Beziehung zu dem Pferd gehabt zu haben, denn auf dem Hügel von Uffington gibt es ein ähnliches Wallsystem. Und auch in unmittelbarer Nähe anderer überdimensionaler Kreidefiguren finden sich derartige Anlagen. Eine der bekanntesten ist Maiden Castle bei Dorchester, unweit der englischen Südküste. Das gewaltige Erdbauwerk ist rund 500 Meter breit und einen Kilometer lang und geht in seinem Ursprung vielleicht sogar auf die Jungsteinzeit zurück. Auf jeden Fall haben die Eisenzeitleute es noch bis zur Eroberung durch die Römer genutzt. Strategen haben berechnet, daß zur wirkungsvollen Verteidigung dieser Wallanlage ein Heer von 250000 Mann erforderlich gewesen wäre. Deshalb ist es mehr als fraglich, ob Maiden Castle und die anderen ähnlichen Anlagen überhaupt Festungen gewesen sind oder ob sie nicht viel eher Kultplätze für heidnische Festlichkeiten waren. Maiden Castle ist wohl das größte britische Wallsystem aus der Vorzeit. In seiner Nähe fand sich bis jetzt keine der weißen Figuren, was aber nicht besagt, daß es dort keine gab. Wer weiß schon, worüber der dichte Rasen wuchert? Wenige Kilometer weiter nördlich, bei Cerne Abbas, liegt der Giant Hill (Gigantenhügel), der wieder eine Wallanlage und ein Kreidebild vereint. Hier ist es kein Pferd, sondern eine riesige Götterfigur mit einer Keule in der erhobenen Rechten.
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Wieder einmal ist es altes, überliefertes Brauchtum, das die Bedeutung sowohl der »Festung« auf der Kuppe des Hügels wie der hünenhaften menschlichen Gestalt zu enträtseln und zugleich den geistigen Zusammenhang zwischen beiden zu bestätigen scheint: Jahrhunderte lang feierte das Volk auf dem Berg innerhalb der Erdwälle am 1 . Mai ein Frühlingsfest. Die jungen Leute errichteten dort oben einen Maibaum und tanzten um ihn herum die uralten Tänze aus längst vergangenen Zeiten. Die heidnischen Maifeiern aber waren Fruchtbarkeitszeremonien, und Fruchtbarkeit spendete auch der Weiße Riese von Cerne Abbas, den manche Vorzeitforscher für Herkules, Helith oder Gog halten, eine bedeutende Figur aus der vorchristlichen Mythologie. Die Bibel machte ihn später im Kampf gegen heidnisches Kulturgut zum Verbündeten Satans gegen Christus. Allerdings störte das abergläubische Engländerinnen bis ins vergangene Jahrhundert nicht. Sie glaubten nach wie vor an die wunderbare Kraft des alten Riesen. Blieben ihre Ehen kinderlos, dann schliefen sie nachts auf dem Körper des Giganten und hofften auf seine fruchtbringende Ausstrahlung. So wie er heute erhalten ist, repräsentiert der Gigant von Cerne Abbas übrigens nur einen Teil einer ehemals größeren Figurengruppe. Über seinem ausgestreckten Arm hing ein Umhang, und rechts von ihm stand ein weiterer Riese, was schräg aufgenommene Luftbilder erkennen lassen. Ein anderer Hüne inmitten der lieblichen südenglischen Landschaft ist der Lange Mann von Wilmington, der den Windover Hill unweit des Ortes Wilmington in Sussex ziert.
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Mit seiner stattlichen Höhe von 77 Metern dürfte er die größte menschliche Gestalt der Welt sein. Auch in seiner Nähe finden sich Spuren alter Wallanlagen. Der britische Archäologe T. C. Lethbridge deutete ihn als Kultfigur vorgeschichtlicher Sonnenverehrer. Der Lange Mann sieht anders aus als der Riese von Cerne Abbas. Als schlanke Gestalt erhebt er sich an der Flanke des Hügels. In jeder Hand hält er eine riesige senkrechte Stange. Spekulanten unter den Archäologen fragen sich, ob er symbolisch das Tor zur Sonne geöffnet hat. Vielleicht aber krönte früher auch jede der beiden Stangen eine Sonnenscheibe. Ähnliche Darstellungen sind nämlich - weit kleiner - wiederum aus der skandinavischen Vorzeit bekannt. Natürlich blieben bei weitem nicht alle alten Kreideriesen und weißen Pferde der Britischen Inseln bis in unsere Zeit erhalten. Die meisten dürfte im Laufe der Jahrhunderte für immer eine grüne Tarnkappe aus Gras unsichtbar gemacht haben. Wenn trotzdem ab und zu ein Archäologe mit geschultem Auge neue Riesenfiguren entdeckt, dann gehört das zu den seltenen Glücksfällen in seinem Beruf. In den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts machte sich Lethbridge auf die Suche nach einem Riesen, der nach alten Sagen irgendwo auf den Gogmagog-Hügeln in der Nähe eines Eisenzeit-Camps bei Wandlebury (unweit von Cambridge) schlummern sollte. Der Forscher war nicht wenig überrascht, als er ihn wirklich fand; und nicht nur ihn, sondern zugleich auch zwei andere menschliche Figuren und außerdem ein Pferd, das dem von Uffington ähnelte, sowie einen Triumphwagen. Einer der Götter schwang ein Schwert; Lethbridge hält ihn für den mythologischen Wandil. Ein anderer Riese könnte Gog oder der Sonnengott gewesen sein. Und die dritte, eine weibliche Figur, deutete ihr Entdecker als Magog oder Epona, die alte gallische Pferdegöttin. Sie ist 40 Meter groß. Lethbridge legte sie teilweise frei und wagte sich an eine Altersabschätzung. Er glaubte, die Göttin stamme aus der Zeit um 200 v. Chr., ebenso wie das Pferd und der Wagen, während die beiden männlichen Götter seiner Meinung nach rund 150 Jahre jünger sind. Leider ist der Fundort heute wieder verwildert. Es gilt, die Bestandsaufnahme auszuwerten. Als ziemlich sicher ist anzunehmen, daß die riesigen Figuren immer mit einer Ringwallanlage aus der Vorzeit in Zusammenhang standen. Die klassische archäologische Auffassung, daß diese Anlagen als Festungen dienten, scheint unhaltbar, denn sie ließen sich nicht sinnvoll verteidigen. Zudem eignet sich ihr Grundriß kaum für ein Fort. Das kilometergroße Maiden Castle beispielsweise weist an beiden Stirnseiten merkwürdige labyrinthartige Eingänge auf, die militärisch völlig sinnlos wären, wohl aber kultischen Charakter besitzen könnten, denn das Labyrinth hatte in der Prähistorie generell große mythologische Bedeutung. Vieles spricht auch dafür, daß die »Eisenzeitfestungen« tatsächlich als Kultplätze benutzt wurden. Zum einen haben die Römer, die Maiden Castle bei dessen Eroberung noch in seiner eigentlichen Funktion kennen lernten, die Anlage offenbar als geweihten Ort betrachtet, denn sie errichteten innerhalb der Walleinfassung einen Tempel. Zum anderen fanden sich in alten Texten und ebenso im praktizierten Brauchtum zahlreiche Hinweise darauf, daß die Erdwallanlagen in der Tat Schauplätze vorchristlicher Feste waren. Es handelte sich dabei um ausgelassene Feierlichkeiten, die religiöses Empfinden und bäuerliches Leben miteinander in Einklang brachten. Diese Feiern fanden offenbar an wichtigen jahreszeitlichen Zeitmarken statt, vor allem im Frühjahr (später am 1. Mai), wenn der düstere Winter wie auf dem Spring Hill dem neuen Leben weichen mußte, oder zu Mittsommer, wenn die Haupterntezeit begann. Insofern waren es Fruchtbarkeitsfeste. Bei diesen Gelegenheiten traf sich die ländliche Bevölkerung - wie die Größe der Anlagen vermuten läßt - aus weitem Umkreis und hielt zugleich Jahrmärkte ab. Solche Maifeiern und Maimärkte haben sich nicht nur auf den Britischen Inseln, sondern auch in weiten Teilen Mitteleuropas bis heute erhalten. Und schließlich zeichneten sich diese Feste stark durch symbolische Kulthandlungen aus. Es sei an das schon erwähnte Käserollen - vielleicht eine Art Erntedank - erinnert. Noch bis ins vergangene Jahrhundert spielte die britische Jugend innerhalb der alten Wallanlage auf dem Clay Hill in Wiltshire am Palmsonntag Ballspiele, ohne sich allerdings des uralten kultischen Hintergrundes ihres Tuns bewußt zu sein. In der Tat gehörten zeremonielle Ballspiele in früheren Zeiten zum rituellen Repertoire zahlreicher Naturreligionen. Und noch in unserem Jahrhundert stellte man in den so genannten »Eisenzeitfestungen« zur Maifeier den Maibaum auf behängte ihn mit langen Bändern und tanzte um ihn herum.
In seiner Wessex-Novelle »Far from the Madding Crowd« berichtete Thomas Hardy 1874: »Die Versammlung dieses Jahres fand auf dem Gipfel eines Hügels statt, auf dem sich die gut erhaltenen Überbleibsel einer uralten Erdanlage befanden, bestehend aus einem hohen Wall und einem Graben, die in ovaler Form die Kuppe des Hügels säumten. Nur hier und da waren sie etwas beschädigt. Zu jedem der Haupteingänge auf beiden Seiten führte ein gewundener Weg hinauf, und die ebene grüne Fläche von zehn oder fünfzehn Morgen, die dieser Wall einschloß, war der Platz für den Jahrmarkt.« Hardy berichtete von dem herbstlichen Schafmarkt im »Steinzeitfort« auf dem Woodbury Hill in Dorset, der dort schon seit Jahrhunderten jeweils am 18. September abgehalten wurde. Was aber hat das alles mit den riesigen Pferden zu tun? Hier gibt es keine Gewißheit, aber eine Reihe merkwürdiger Indizien. Die Figur der sagenhaften Lady Godiva, der nackten, aber züchtig in ihr langes Haar gehüllten Schimmelreiterin, wird von manchen britischen Mythenforschern, unter ihnen Harold Bayley, auf die archaische Göttin Hipha, die »Große Mutter«, zurückgeführt, deren Name zugleich »Stute« bedeutet. Das Pferd erscheint hier als Fruchtbarkeitsgottheit. Damit gesellt es sich zu dem Riesen von Cerne Abbas, der - man sieht es an seinen überdimensionierten Genitalien, und auch die alten Gewohnheiten kinderloser Ehefrauen weisen darauf hin - ­mit Sicherheit ein Fruchtbarkeitsbringer war. Überraschenderweise taucht das Pferd aber nicht nur als Hügelfigur auf, sondern überaus lebhaft in britischen Maifeiern selbst und dort in einer mindestens ebenso eigenwilligen Form wie in der drachenartigen Gestalt des Weißen Pferdes von Uffington. Am Maifeiertag trabt durch die Straßen der Stadt Padstow in Cornwall ein riesiges Steckenpferd, das aber nicht aussieht wie ein Gaul, sondern eher wie ein altes Boot. Nur der Pferdekopf auf seinem hölzernen, mit schwarzem Ölzeug überspannten Rahmen sagt eindeutig, was die bizarre Gestalt verkörpern soll. Dieses Pferd nun benimmt sich sexuell durchaus aktiv. Wo immer es kann, rempelt es junge Frauen und Mädchen an und grapscht nach ihnen. Sind das letzte Überbleibsel alter Fruchtbarkeitsriten? Daß es nicht allein der Freude am frivolen Spiel entspringt, wird klar, wenn man das ausgelassene Maipferd mit anderen Pferdefiguren aus britischen Volksbräuchen vergleicht. In Minehead, Abbots Bromley und Folkestone erscheinen Steckenpferde ebenfalls zur Maifeier und verhalten sich ähnlich ausgelassen. Immer aber sind es Pferde. Doch treten Pferde auch in ernsthafterer Variante auf: zur Weihnachtszeit nämlich, deren Vorgängerin die heidnische Mittwinterfeier war. Noch heute wird Weihnachten auf den Britischen Inseln gelegentlich mit dem alten Namen Yuletide bezeichnet. Die Schweden etwa sprechen generell vom Julfest. Zur englischen Yuletide jedenfalls wurde hier und da noch vor gar nicht langer Zeit ein skelettierter Pferdeschädel oder ein hölzerner Pferdekopf, dekoriert mit farbigen Bändern, von einem Tuchverhüllten Mann auf einem Stock von Haus zu Haus getragen. Der Träger war als Old Hob bekannt. Und da ist noch ein Indiz, das die weißen Pferde mit heidnischen jahreszeitlichen Festen, vor allem mit dem Frühjahrsfest, in Verbindung bringt, wenngleich es auf den ersten Blick reichlich weit hergeholt erscheinen mag. Der Tanz um den Maibaum ist bekanntlich keine rein britische Angelegenheit. Dieses bänderbehangene Frühjahrssymbol ist besonders auch im altbayerischen Raum bekannt und gehört dort noch heute zur jährlichen Tradition. Nur umwinden den Mast in Bayern weiß-blaue Spiralen, während die britischen Maibäume weiß-rot umringelt sind. In Bayern gibt es auch noch die alte Sitte, daß die jungen Burschen eines Dorfes versuchen, den Maibaum einer Nachbargemeinde vor dem eigentlichen Fest zu stehlen, früher vielleicht, um dieses Fruchtbarkeitssymbol für das eigene Dorf zu gewinnen und so für die anbrechende Wachstumsperiode die besseren Ernten zu sichern. Ist es ein Zufall, daß es im Herzen Bayerns, in der Holledau, auch einen anderen alten Maibrauch gab: das Schimmelstehlen aus der Nachbargemeinde? Wo hört wissenschaftliche Mutmaßung auf, wo fangen Phantasie und reine Spekulation an? - Sicher ist, daß die riesenhaften britischen Hügelfiguren kultischer Natur waren, daß sie eng mit dem bäuerlichen Alltag, mit dem Wechsel der Jahreszeiten, mit Fruchtbarkeit, Geburt und Leben verknüpft waren. Und doch stecken sie voller Rätsel. Vor allem ihre gigantische Größe läßt sich nicht erklären. Die Tatsache, daß sie fast alle am besten aus der Luft zu erkennen sind, ihre Schöpfer aber mit Sicherheit keine Gelegenheit hatten, sie von dort zu betrachten, regte phantastische Gemüter zu wilden Spekulationen an. Wen diese Tier-, Menschen- oder Götterfiguren wirklich darstellen sollen, dafür gibt es zwar Hinweise, aber keine wirklichen Beweise. Es scheint so, als ob nicht erst die heutigen Briten, sondern schon die Inselbewohner der Vorzeit den typisch angelsächsischen Sinn für das Außergewöhnliche und Skurrile gehabt hätten

Quelle: Die großen Rätsel unserer Welt von Felix R. Paturi, ISBN: 09183/5, 1989, Deutscher Bücherbund GmbH+Co